Kommentar: Neufassung des SGB VIII bzgl. der Individualpädagogik im Ausland
In der geplanten Neufassung des SGB VIII setzt sich der Gesetzgeber ausdrücklich mit der „Zulässigkeit von Auslandsmaßnahmen“ im neugefassten § 38 auseinander.
Wir als Fachleute begrüßen dies im Grundsatz, da wir als beteiligte Träger der erzieherischen Hilfen im Ausland seit langem diese Art der Jugendhilfe als eine sinnvolle und geeignete Hilfeform betrachten. Eine Hilfeform, die das Kindeswohl berücksichtigt und den „ besonderen Jugendlichen“ das Recht auf Erziehung und Bildung zu Teil werden lässt. Hierzu sind in den Fachverbänden schon seit längerer Zeit Selbstverpflichtungserklärungen gültig, die weitestgehend den neuen Gesetzesentwurf vorwegnehmen und seit Jahren von seriösen Trägern umgesetzt werden. Diese Hilfeform, von uns als reguläres Angebot der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland betrachtet, wird im neuen § 38 SGB VIII gesondert erwähnt und geregelt. Die vom Gesetzgeber gewählte Terminologie „Zulässigkeit von Auslandsmaßnahmen“, suggeriert allerdings, dass diese Art der Hilfeform dem Grunde nach nicht zulässig ist.
Dass es im Rahmen des SGB VIII verschiedenste Zulässigkeitskriterien gibt, ist nichts Neues und sinnvoll. So werden Betriebserlaubnisverfahren geregelt und ähnliches. Es sollte aber hier die Frage gestellt werden, warum andere Hilfeformen im Entwurf nicht eine ähnliche Bewertung erfahren und deren Überschriften nicht auch „Zulässigkeit von stationären Maßnahmen“ oder „Zulässigkeit von ambulanten Maßnahmen“ heißen müssten? Denn sowohl die stationäre wie die ambulante Betreuung von Kindern unterliegt Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften.
In Absatz 1 des Paragraphen ist es dem Gesetzgeber wichtig, besonders auf Rahmenbedingungen hinzuweisen, die unbedingt einzuhalten sind. Benannt werden das Haager Kindesschutz-übereinkommen und die Verordnung nach Brüssel IIa. Wir vermuten, dass die in diesem Paragraphen erwähnten Verweise auf andere Gesetze den Hintergrund haben, dass das Bundesministerium für Kinder, Jugendliche und Familien die Hoheit über die individualpädagogischen Maßnahmen im Ausland abgeben will und in den Verantwortungsbereich des Auswärtigen Amtes und des Justizministeriums bzw. des Bundesamtes für Justiz übergibt.
Die derzeitige Praxislage bei der Umsetzung der beiden genannten Verordnungen ist, dass sie in vielen Ländern (auch EU-Ländern) aus verschiedensten Gründen nicht umsetzbar sind, weil diese deren Anwendung aus eigener hoheitlicher Verantwortung heraus nicht für notwendig erachten. Eine Begründung liegt darin, dass keine Unstimmigkeiten über die elterliche Sorge vorliegen. So soll das Gesetz nun eine Voraussetzung für Hilfeformen schaffen, die a priori nicht umsetzbar ist. In Fällen in denen Gastländer auf höchsten hoheitlichen Ebenen zu der Erkenntnis kommen, dass die deutschen individualpädagogischen Maßnahmen im Ausland gar nicht unter die Verordnung gemäß Brüssel IIa (HKÜ) fallen und somit auch kein Konsultationsverfahren durchführen, ansonsten aber die Jugendlichen unter bestimmten anderen Bedingungen aufenthaltsrechtlich beherbergen, geht die Bundesregierung davon aus, dass dieses Vorgehen illegal und somit verboten ist. Eine Abwägung anderer Rechtsgüter, wie bspw. Reisefreiheit, freie Berufsausübung, das Recht der Jugendlichen auf Bildung und Erziehung, sowie körperliche und seelische Unversehrtheit oder die Bereitstellung eines geeignetes Settings, in dem sie gesund aufwachsen und leben können, wird nicht vorgenommen. Die derartige Verhinderung eines durchaus erfolgreichen Angebotes der Kinder- und Jugendhilfe, das speziell für schwierige Jugendliche entwickelt wurde, ist nicht hinnehmbar. Besonders wenn man weiß, dass die Zielgruppe junge Menschen sind, die Opfer von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt in ihrer Herkunftsfamilie geworden sind, und für die bisher keine geeigneten Betreuungssettings im deutschen Jugendhilfesystem gefunden werden konnte.
In den vergangenen 20 Jahren ist die Individualpädagogik im Ausland immer wieder medial behandelt worden. In den meisten Fällen geschah dies quotenorientiert und tendenziös. Parallel hierzu sind zahlreiche wissenschaftliche Studien zur Notwendigkeit und Wirksamkeit entstanden. Fast alle Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Wirksamkeit der Hilfeform sehr effizient sind und sich deutlich positiv über alle anderen Angebote des SGB VIII absetzten. Ebenso wurde in einer Folgestudie der volkswirtschaftliche Nutzen der Auslandshilfen deutlich nachgewiesen.
Die Träger dieser Hilfeform setzen sich schon lange dafür ein, dass am ausländischen Ort der Leistungserbringung durch den öffentlichen Jugendhilfeträger angemessen kontrolliert wird. Ebenso wird gefordert, dass auch die Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII am Ort der Leistungserbringung erfolgt. Uns ist dabei durchaus bewusst, dass diese Art der Hilfeform ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen benötigt. Einerseits befindet sich die tatsächliche Umsetzung der Hilfe außerhalb des territorialen Zuständigkeitsbereiches des SGB VIII, andererseits sind die Störungsbilder der betreffenden Jugendlichen komplex. Hierzu sind wir im regelmäßigen Austausch, sowohl mit den Vertretungen des Auswärtigen Amtes als auch mit den überörtlichen Jugendhilfeträgern. Zusätzlich auch mit den Behörden des Gastlandes, mit denen oft eine intensive und langjährige Zusammenarbeit besteht. In Einzelfällen bestehen weitreichende Kooperationsverträge mit diversen Behörden und Institutionen.
Um die im Gesetz beschriebene Kontrolle zu ermöglichen, arbeiten unsere MitarbeiterInnen sehr flexibel, stellen aber auch fest, dass auf Seiten der fallführenden Jugendämter weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, diese angemessen umzusetzen. Hierzu gibt es auf Seiten des Gesetzgebers keinerlei Lösungsansätze und Hilfen im Gesetzentwurf. Es bleiben folglich etliche Frage offen, welche Zielrichtung der Gesetzgeber mit der Formulierung des § 38 SGB VIII verfolgt.
- Sollen die individualpädagogischen Hilfen im Ausland auf festere Füße gestellt werden, damit unseriöse Angebote verhindert werden?
- Werden die hierzu nötigen Personalressourcen zur Verfügung gestellt?
Im Übrigen eine Frage, die sich auch für alle Maßnahmen nach § 27 ff stellt.
- Möchte der Gesetzgeber wirklich die Rechte von Kindern und Jugendlichen stärken (alle Jugendlichen haben sich selber für diese Art der Maßnahme entschieden)?
- Wollen wir als Gesellschaft wirklich im Rahmen der stationären Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche den am besten geeigneten Platz finden?
- Oder ist der Gesetzgeber derzeit auf dem Weg ein hoch wirksames Kinder- und Jugendhilfeangebot derart einzuschränken, das die praktische Umsetzung wesentlich erschwert oder sogar verhindert wird.
- Wie soll der Weg für die Jugendlichen aussehen, die auf Grund ihres nicht selbst verschuldeten Verhaltens keinen Zugang mehr zu Betreuungssettings in Deutschland haben?.
- Lassen wir diese Jugendlichen alleine? –
- Stellen wir ein Prinzip „Strafe statt Pädagogik“ in den Vordergrund, weil wir nicht in der Lage sind oder sein wollen, eine wirksame Alternative gut zu kontrollieren und zu begleiten?
Diese Fragen müssen und dürfen gestellt werden und bedürfen einer Antwort.
Das Europäische Forum für Soziale Bildung (EFFSE e.V.) ist ein Trägerzusammenschluss, der sich seit Jahren für eine seriöse Umsetzung dieser Art der Betreuung in Form von interkultureller Bildung widmet. EFFSE will Jugendlichen in besonderen Lebenslagen eine Perspektive für ein selbstbestimmten Leben in individueller Freiheit anbieten und deren Weg zum mündigen europäischen Bürger unterstützen und begleiten. Wir sind der Meinung, dass Gesetze den Rahmen geben und die Kontrollfunktion haben müssen, um das Kindeswohl sicherzustellen. Diese sollten aber auch realistisch sein und sich tatsächlich am Wohl des Kindes orientieren. Die Vorgabe, sich an Verordnungen zu halten, die nicht umsetzbar sind, ist dabei wenig hilfreich, sie verhindern die Hilfe. Wir sind als Träger gerade in dieser Hilfeform auf ein hohes Maß an Rechtssicherheit, Vertrauen und auch Kontrolle angewiesen. Aus unserer Sicht besteht derzeit die Gefahr, dass Träger, auf Grund der geschilderten Rahmenbedingungen ihre Angebote reduzieren oder gänzlich einstellen. Jugendliche, die auf solche Hilfen angewiesen sind, gibt es nach wie vor viele. Weiter besteht die Gefahr, dass auch wegen einer vorhandenen „Notlage“ Hilfen initiiert werden, die gegen gesetzliche Regelungen verstoßen. Dies gilt es im Sinne der Kinder und Jugendlichen und einer notwendigen Qualität zu verhindern. Das novellierte Gesetz darf eine Hilfeform strukturell nicht verhindern, die es „besonderen Jugendlichen“ ermöglicht zu gesunden und sich frei zu entwickeln.
Gerwin Karafiol
Dipl. Soz. Päd., MA Soz. Man.
Europäisches Forum für Soziale Bildung e.V.